#Ökosystem Innovation: DATEV Vorstandsvorsitzender Dr. Mayr im Gespräch
Zum Abschluss des Themenspecial #Ökosystem Innovation werfen wir mit DATEV Vorstandsvorsitzenden Dr. Mayr einen Blick auf Unternehmenskultur, Experimentierfreude und freies Denken.
Herr Dr. Mayr, waren Sie heute schon innovativ?
Ich persönlich betrachte alles, was ich nicht nach Schema F erledige, als innovative Handlung. Mein Job bringt es mit sich, dass ich mich ständig in neue Themen hineindenken und Entscheidungen treffen muss, und da versteht es sich von selbst, dass ich mir die jeweilige Fragestellung aus unterschiedlichen Blickwinkeln anschaue. Insofern würde ich sagen, ja, ich war heute schon ein paar Mal innovativ – wie eigentlich jeden Tag.
...viele sprechen heute über Innovationsfähigkeit von Personen, aber weniger über das Umfeld, das Menschen zu Innovationen inspiriert. Mal andersherum – wie sähe für Sie ein Ort aus, der sogar den innovativsten und kreativsten Menschen in seinen Fähigkeiten beschränkt?
Das ist leicht zu beschreiben: Eine Organisation mit starren, tradierten, überbordenden Hierarchiestufen, die den Geist des „Das haben wir immer so gemacht“ ausstrahlt und in der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich nicht trauen, Vorschläge zur Weiterentwicklung einzubringen. Das ist ein Raum, in dem wenig Platz für Innovationen ist. Auch starres Bereichsdenken ist Gift für Innovationen, denn es führt dazu, dass man in einer Innensicht verharrt und dass gute Vorschläge eventuell nicht aufgegriffen werden, weil sie den falschen Stallgeruch haben. So eine Organisation erstickt innovative Ansätze schon im Keim. Aber auch wenn Ideengeber keine Unterstützung und Wertschätzung erfahren, wenn sie nicht experimentieren und keine Fehler machen dürfen, dann hemmt das innovatives Denken natürlich massiv.
Was bedeutet „Innovationskunst“ für Sie ganz persönlich und welche Bedeutung haben Innovationen speziell für DATEV?
Unter Innovationskunst verstehe ich die Fähigkeit, immer wieder etwas zu verbessern, zu verfeinern, aber auch gegebenenfalls komplett neu zu denken. Für mich geht es in erster Linie darum, offen für Neues zu bleiben, Gelegenheiten zu erkennen und dann zu ergreifen mit dem Ziel, Mehrwert für die Kunden zu schaffen. Innovation ist also vor allem auch eine Geisteshaltung, ein Mindset. Es muss akzeptiert und normal sein, ausgetretene Pfade zu verlassen, in anderen Bahnen zu denken und sich mit anderen auszutauschen. Dinge auszuprobieren, zu scheitern, zu lernen, nicht aufzugeben, bis eine Problemstellung gelöst ist. Insofern lebt Innovation auch von Vernetzung – und zwar innerhalb eines Unternehmens wie auch extern.
Außerdem empfiehlt es sich, eine Vision von den künftigen Veränderungen im eigenen Umfeld wie auch der Kundenbedürfnisse zu haben, was sich über strukturierte Beobachtungen und Trendanalysen erreichen lässt. Ein Software-Anbieter wie DATEV muss immer agil bleiben und sein Produktportfolio ständig hinterfragen und weiterentwickeln. Einen schönen Meilenstein in Richtung digitaler Automatisierung haben wir beispielsweise mit unserem Automatisierungsservice Rechnungen gesetzt. Damit haben wir das Tor zu einer Zukunft aufgestoßen, in der Künstliche Intelligenz Teile der Buchführung automatisiert. Und in Sachen KI haben wir weitere tolle Forschungsprojekte laufen, beispielsweise für SmartBusiness-Lösungen, über die innovationskunst.de ja auch schon berichtet hat. Da ist eines der Ziele beispielsweise zu Veränderungen im Marktumfeld schnelle, automatische Recherchen und permanente Überwachungsfunktionen möglich zu machen, die aus einer Vielzahl an verfügbaren Quellen, selbstständig genau die Informationen zutage fördern, die für die Weiterentwicklung der Geschäftstätigkeit nötig sind. Das ist perspektivisch eine Entwicklung mit großem Potenzial. Aber um etwas Innovatives zu tun, muss ich nicht immer gleich die Welt aus den Angeln heben. Innovation ist nicht nur die große, bahnbrechende Erfindung, bei der alle staunend applaudieren, wenn sie der Öffentlichkeit präsentiert wird. Wenn ich beispielweise in einem Software-Programm durch eine kleine Änderung bewirken kann, dass tausende Nutzer tagtäglich Zeit sparen, dann finde ich auch das sehr innovativ.
Erwarten Kunden heute mehr Innovationen?
Die Zeiten sind schnelllebiger geworden, die Releasezyklen für Produkte haben sich verkürzt. Insofern ist natürlich auch die Erwartungshaltung der Kunden gestiegen, schnell neue Features in ihrer Software zu bekommen und von neuen technischen Entwicklungen zu profitieren. Wir setzen deshalb massiv auf Kundeneinbezug in der Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung, gerade auch, wenn es um große Innovationen geht. Schließlich bringt es nichts, wenn Spezialisten im Elfenbeinturm tolle neue Erfindungen machen, die zwar technisch anspruchsvoll und neuartig sind, aber kaum Marktpotenzial haben, weil die Kunden ganz andere Dinge brauchen. Wer seine Kunden in frühen Entwicklungsstadien fragt und testen lässt, kann sich so manche Entwicklungsschleife ersparen. Dafür haben wir unterschiedliche Formate etabliert, in der Anwenderinnen und Anwender sich aktiv einbringen, sei es als Ideengeber oder auch in der Bewertung der Alltagstauglichkeit.
Meine Hypothese: Eine fest verankerte Feedbackkultur in der Kommunikation ist der Funke, der inspiriert und Innovationen befeuert…
Da stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen offen ihre Meinung kundtun und auch Bedenken äußern können, wenn etwas aus ihrer Sicht nicht richtig läuft. Umgekehrt sollten sie auch umgehend erfahren, ob ihre Arbeitsergebnisse dem entsprechen, was gebraucht wird. Um diese Feedbackkultur und freies Denken zu fördern, aber auch um näher am Markt zu sein, haben wir unsere Organisation umfassend transformiert, Entscheidungsprozesse verschlankt, die Verantwortung in die Teams gegeben und eine Vertrauenskultur aufgebaut. Ebenso wie von innen schätzen wir aber auch das Feedback unserer externen Stakeholder. Je mehr Impulse von verschiedenen Seiten zusammenfließen, desto schneller kann nachjustiert werden und desto besser wird das Endergebnis ausfallen. Natürlich brauche ich auch eine gute Koordination, die dieses Feedback von außen auswertet, strukturiert und es wieder an die Entwicklungsteams spielt, damit es optimal im weiteren Entwicklungsprozess umgesetzt werden kann.
…hat die Kommunikation unter der Coronapandemie und der dadurch vermehrten digitalen Kommunikation gelitten?
Das kann ich mit einem klaren Nein beantworten, und darüber freue ich mich sehr. Bei uns hat vieles im Lockdown deswegen gut geklappt, weil wir schon vorher Voraussetzungen geschaffen hatten, um leicht von Präsenz-Kultur auf „virtuell“ umschalten zu können. Das war zwar bei der Konzeption nicht das primäre Ziel, kam uns aber in der Pandemie-Situation sehr zupass. Der Sprung ins kalte Wasser, zu dem uns der Lockdown dann doch gezwungen hat, war letztlich für die Entwicklung bei uns im Unternehmen sogar positiv. Was wir gemerkt haben: Verbindlichkeit, Rituale sind wichtig, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu erhalten. Es muss Raum geschaffen werden für regelmäßige Gespräche. Bei DATEV haben einzelne Teams beispielsweise gemeinsame virtuelle Kaffeerunden oder Feierabend-Chats organisiert, um den Kontakt untereinander auch auf der persönlichen Ebene zu halten. Für den Umgang mit Kolleginnen und Kollegen gilt beim mobilen Arbeiten in ganz besonderem Maß: Werte wie Vertrauen, Transparenz, Solidarität innerhalb des Teams werden noch wichtiger, wenn man sich nicht mehr jeden Tag physisch trifft. Wir erleben einen Wertewandel, bei dem es darum geht, sich auf wesentliche Grundwerte zu fokussieren, ein Wir-Gefühl zu erhalten. Und der andere wichtige Aspekt für das Thema Innovationsfähigkeit: Auch unsere Formate für das Kundenfeedback sind vielfältig und lassen sich in weiten Teilen sehr gut auch virtuell durchführen. Insofern haben wir in der Pandemie mit ihren Beschränkungen auch den Draht zu unseren Kunden nicht verloren. Insgesamt würde ich sagen, wir haben den Stresstest sehr gut bestanden.
Ein Blick vom Kunden zurück in Ihre Organisation. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat mal gesagt: „In der Krise beweist sich Charakter“ – vielleicht beweist sich nicht nur der Charakter, sondern der Charakter zeigt sich auch verstärkt. Gilt das auch für Unternehmen?
Ja, das sehe ich ebenso. In der Krise ist beispielsweise auch unser genossenschaftlicher Charakter stark zum Tragen gekommen. Unsere Mitglieder, vorwiegend Steuerberatungskanzleien, waren ja enorm gefordert, um ihre Mandanten durch den Dschungel der Rettungs- und Fördermaßnahmen zu lotsen. Da haben sie eine sehr respektable Rolle gespielt, und wir haben natürlich alles getan, um sie dabei bestmöglich zu unterstützen. Aber nicht nur in Steuerberatungskanzleien oder bei DATEV, sondern bei vielen Unternehmen haben wir in der Krise gesehen, mit wie viel Flexibilität und Erfindungsreichtum sie sich der Herausforderung gestellt und das Beste aus der Situation gemacht haben. Diejenigen Hoteliers, die beispielsweise zwar keine Reisenden mehr beherbergen konnten, aber dort wo möglich den Bedarf an ruhigen Arbeitsräumen erfüllen konnten, den das Homeoffice-Gebot mit sich brachte, haben sich aus meiner Sicht sehr innovativ verhalten: Das hat zwar die entstandenen Umsatzeinbußen sicher nicht ansatzweise ausgleichen können, sie haben die Veränderungen im Markt aber sofort erfasst, den Bedarf mit den eigenen Möglichkeiten abgeglichen und sofort eine neue Zielgruppe adressiert. Zum Thema Innovation gehören eben grundsätzlich auch Veränderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit.
Im Unternehmen sollte man nicht die Menschen verändern, sondern die Rahmenbedingungen für das Verhalten. Welche Rahmenbedingungen geben Sie bei DATEV ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, um innovativ zu sein?
Menschen ändern zu wollen, ist nicht nur ein schweres Unterfangen, sondern oft auch kontraproduktiv. Ich kann niemanden anweisen, über den Tellerrand zu schauen, und mit derartigen Anweisungen erreiche ich bei manchen nur, dass sie oder er sich verschließt. Wenn ich aber die Diversität meiner Belegschaft als Bereicherung, als Chance sehe, und ein Umfeld schaffe, in dem jede und jeder mit seinen Eigenschaften den bestmöglichen Platz findet, profitieren alle davon. So handhaben wir das bei DATEV. Wir leben eine „Open Innovation“, einen offenen Prozess, sowohl intern als auch zusammen mit Kunden und natürlich auch mit Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft. Wir fördern bewusst den Gedanken des Intrapreneurship und schaffen Freiräume für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, z.B. über Workshops zur Ideenausarbeitung, und setzen auf interdisziplinäre Teams, um komplexe Themen zu meistern.
Unternehmenskultur oder auch Innovationskultur ist für viele Menschen ein sehr abstrakter Begriff. Können Sie mir von Momenten erzählen, in denen Sie gedacht – oder gesagt? – haben: „Ja, das ist die DATEV“?
Da gibt es viele Momente, aber wenn ich einen aussuchen soll, dann ist das für mich ganz klar die Situation im ersten Lockdown. Wie so viele Unternehmen haben wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einem Tag auf den anderen nach Hause geschickt und uns nur noch virtuell zusammenfinden und koordinieren können. Und obwohl wir räumlich getrennt waren – und derzeit ja zum großen Teil auch immer noch sind – war der DATEV-Spirit ungebrochen und wir haben die in der Corona-Krise auftretenden zusätzlichen Aufgaben mit Bravour gemeistert. Es war einfach ein toller Zusammenhalt zu spüren und wir haben in der Krise alles kurzfristig in unseren Programmen umgesetzt, was an rechtlichen Sonderregelungen auf uns zukam. Das machte mich schon sehr stolz auf meine DATEV.
In vielen Organisationen arbeiten hochinnovative Menschen, wollen mitarbeiten und haben tolle Ideen, wie man weiterkommt. Aber die Ideen werden dann im besten Fall dokumentiert. Und nie wieder aufgegriffen. Mitarbeiter bekommen das Gefühl, dass ihre Einfälle erst gar nicht gewünscht sind oder Innovationsmanagement nur ein Employer Branding Buzzword ist...was machen Sie bei DATEV anders?
Das ist ganz einfach: Wir haben das „Buzzword“ mit Leben gefüllt. Unser Innovationsmanagement sorgt wirklich für die Rahmenbedingungen, damit Innovationen entstehen können und kümmert sich um die Beseitigung von Hürden, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter solche identifizieren. Es bietet durchgängige Unterstützung, von der Ableitung der Potenzialfelder aus aktuellen Entwicklungen über die zielgerichtete Ideengenerierung und Evaluierung bis hin zur Marktreife und sorgt vor allem dafür, die Ideen rasch zu einer Entscheidung zu bringen. Basis ist eine ganzheitliche Umfeldbeobachtung von Politik, Recht, Technologie und Markt. Sie ist die Grundlage für das weitere systematische und strukturierte Vorgehen. Um aussichtsreiche, radikale Innovationsthemen vorzubereiten, haben wir ein eigenes DATEV Lab eingerichtet. Diese Einheit bietet Freiraum für Neues, Potenzialermittlung von Zukunftsideen, Zusammenarbeit mit Externen. Wer mit einer guten Idee kommt, kann diese im Lab verfeinern, Dinge ausprobieren und sehen, ob und wie sich das Ganze wirklich umsetzen lässt. Für Ideen, die das Stadium der Machbarkeitsstudie erfolgreich hinter sich gelassen haben, haben wir den Inkubator geschaffen. Dort geht es um die Anbindung und Integration der Innovationsthemen an und in das bestehende Geschäft. Wir sprechen dabei auch von „Produktisierung“. Wenn sich abzeichnet, dass neue Themenfelder übergreifende Bedeutung für das Unternehmen bekommen, schaffen wir bedarfsorientiert entsprechende Kompetenzzentren. So haben wir beispielsweise ein eigenes AI Office, das die Produktverantwortlichen im Haus dabei unterstützt, Anwendungsfelder für den Einsatz von KI in ihren Produkten zu identifizieren und prototypisch umzusetzen.
Es gibt viele Methoden, um beispielsweise in einem Workshop Ideen zu generieren. Haben Sie eine Lieblingsmethode?
Da lege ich mich ungern fest, weil jede Methode ja ihren eigenen Ansatz verfolgt und abhängig von den Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern und der Problemstellung, die es zu lösen gilt, besser oder weniger gut funktionieren kann. Was mir persönlich sehr gut gefallen hat, waren die Inspiration Camps, die ich initiiert hatte, als ich den Vorstandsvorsitz übernahm. Da ist der komplette Vorstand der DATEV mit einer Auswahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Klausur gegangen und wir haben unterschiedliche Fragestellungen diskutiert. Für uns Vorstände war es hochspannend, die ungefilterte Sicht der Kolleginnen und Kollegen mitzubekommen, die in der Entwicklung, im Service oder draußen vor Ort bei den Kunden täglich Probleme lösen. Andersherum war auch zu merken, wie sich deren Blickwinkel verändert hat, wenn sie aus erster Hand die Gedanken der Unternehmensleitung gespiegelt bekamen. Da konnte man förmlich greifen, wie sich der Blick über den Tellerrand gehoben hat, und genau darin sehe ich in Sachen Innovation meine Rolle als CEO: den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Gefühl zu vermitteln, dass Über-den-Tellerrand-Schauen und unkonventionelle Ideen willkommen und gewünscht sind. Deshalb habe ich maßgeblich darauf hingewirkt, dass wir ein modernes Innovationsmanagement, das DATEV Lab und diverse Formate für den Austausch im Unternehmen und darüber hinaus eingeführt haben. Wir haben in den vergangenen Jahren unsere gesamte Organisation transformiert, unter anderem mit dem Ziel, innovativer zu werden und schneller zu neuen, für die Kunden passgenauen Produkten zu gelangen.
Methoden in Workshops zu etablieren hat meiner Auffassung nach schon eine Komponente von Führung: Nämlich Menschen zu befähigen, anstatt sie in starren Hierarchien – schlimmstenfalls –stupide Anweisungen abarbeiten zu lassen. Das Thema Leadership erhält – glücklicherweise – mehr und mehr Aufmerksamkeit. Warum?
Unternehmens- und Führungskultur haben einen enormen Einfluss. Innovation kann nur entstehen, wenn das Umfeld ein freies Denken ermöglicht und fördert, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich auch einmal aus dem Tagesgeschäft ausklinken können und genügend Freiräume haben, um neue Ansätze zu ersinnen und zu verfolgen. Und das geht nur, wenn sie von ihren Führungskräften auch dazu ermutigt und dabei unterstützt werden. In einem Führungsschema nach Command-and-Control in starren Hierarchien und gegeneinander abgegrenzten Bereichen funktioniert das definitiv nicht. Wer also eine offene Unternehmenskultur möchte, muss bei den Führungskräften und ihrem Selbstverständnis beginnen. Es kann auch nicht schaden, wenn Führungskräfte sich aktiv mit Innovation auseinandersetzen. Bei DATEV haben wir beispielsweise Ideenpatenschaften etabliert: Leitende Angestellte stehen bereit, um innovative Vorhaben zu unterstützen.
Muss es Raum für verschiedene Führungsstile geben?
Wer den Wert von Diversität erkannt hat, wird auch bei der Führung Freiräume zulassen. Auch Führungskräfte sind Menschen mit unterschiedlich ausgeprägten Eigenschaften und führen sehr unterschiedlich strukturierte Teams. Wenn wir hier von der bunten, spannenden Welt der Innovationen sprechen, dürfen wir eins nicht vergessen. Es gibt auch Menschen, die die Sicherheit der Routine lieben und auch die werden gebraucht. Als DATEV können wir beispielsweise nicht einfach unsere Software auf dem gegenwärtigen Entwicklungsstand lassen und uns nur noch mit disruptiven Technologien beschäftigen. Allein die gesetzlichen Änderungen, die jedes Jahr in den Programmen umgesetzt werden müssen, würden unsere Produkte schnell nutzlos werden lassen. Wir stehen also in der Pflicht, immer beides parallel anzugehen. Als Gesamtorganisation ist es notwendig, dass wir verlässlich und effizient die bestehenden Programme auf aktuellem Stand halten und uns gleichzeitig vorausschauend mit technologischen Veränderungen beschäftigen. Es geht also darum, den Spagat zwischen Exploitation und Exploration hinzubekommen, uns immer wieder vorausschauend zu erneuern. Als Führungskraft muss ich mir jederzeit bewusst sein, in welchem Umfeld ich mich gerade bewege. Auf der Seite des Tagesgeschäfts sind vornehmlich Zuverlässigkeit, Effizienz und Risikominimierung gefragt. Um Innovation zu ermöglichen, braucht es Freiheit, Weitblick, Experimentierfreude. Da kommt es darauf an, dass ich als Führungskraft den jeweils richtigen Rahmen setze und auch einen Blick auf die Persönlichkeiten richte, die im Unternehmen arbeiten und diese nicht nur entsprechend ihrer Skills, sondern auch entsprechend ihrer Wesenszüge mit den passenden Aufgaben betraue.
Stichwort Unternehmenskultur: Gab es für Sie in Ihrer eigenen Berufserfahrung Schlüsselmomente, die Sie inspiriert haben, eine bestimmte Unternehmenskultur bei DATEV zu fördern?
Als ich bei DATEV angefangen habe, war das Unternehmen noch von einem sehr starken Hierarchiedenken geprägt. Da haben die Kolleginnen und Kollegen teilweise sprichwörtlich die Luft angehalten, wenn ich mit ihnen im Aufzug mitgefahren bin – aus Angst, in Anwesenheit „des Vorstands“ etwas Falsches zu sagen. Das entsprach ganz und gar nicht meiner Vorstellung einer modernen Unternehmenskultur. Deshalb habe ich schnell darauf hingewirkt, dass wir DATEV gemeinsam zu einem im Umgangston lockeren, von gegenseitiger Wertschätzung und Kommunikation auf Augenhöhe getriebenen Unternehmen transformieren. Wir haben da einen ganz schönen Kulturwandel hingelegt und verändern uns immer noch weiter. Ich bin sehr froh darüber und sehr dankbar, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen Weg mitgegangen sind und auch noch weiter mitgehen. Und auch das Aufzugfahren ist heute sowohl für die Kolleginnen und Kollegen als auch für mich viel entspannter.
Wir beschränken uns leider oft darauf, nur technologische Entwicklungen als Innovation zu sehen. Wie weit spannen Sie den Begriff der Innovation?
Innovation ist ein sehr weites Feld. Neben der Technologie gehören unabdingbar auch Prozesse und Geschäftsmodelle dazu. Wir sehen das bei unseren Digitalisierungsbestrebungen für unsere Kunden ganz extrem: Neue, effizientere Software einzuführen bedingt in der Regel auch Anpassungen in den betrieblichen Abläufen. Oder wie ein Vorstandskollege von mir gerne betont: Wenn ich einen schlechten analogen Prozess 1:1 in die digitale Welt verlagere, dann habe ich halt einen schlechten digitalen Prozess. Die Innovation ist in diesem Fall nicht nur die Technologie, die uns neue Möglichkeiten gibt. Erst, wenn auch eine Neuerung im Denken, im Zusammenspiel dazukommt, kann sie ihr Potenzial voll entfalten. Für uns als Softwarehaus war eine solche Verhaltensänderung beispielsweise, dass wir von der Idee abgerückt sind, jedes Problem selbst zu lösen, sondern uns für die Zusammenarbeit mit Partnern geöffnet haben. Schließlich lebt die betriebswirtschaftliche Software, die wir für unsere Kunden entwickeln, vom Austausch von Daten. In einer sich immer stärker vernetzenden Welt funktioniert Abschottung nicht. Um Daten wirklich effizient nutzen und Prozesse wirkungsvoll vereinfachen zu können, muss die Vernetzung zwischen Steuerberatern, Unternehmen und auch deren Kunden und Lieferanten immer weiter verstärkt und vereinfacht werden. Das gilt z. B. für den Austausch digitaler Rechnungen, Meldungen an Behörden und Institutionen, die Weiterverarbeitung von Kontobewegungen sowie für die Prozesse rund um die Steuerdeklaration. Und wenn man die Komplexität dieser Datenaustausch-Anforderungen betrachtet, ist eines ganz klar: Nur gemeinsam werden wir Software-Hersteller medienbruchfreie Prozessketten über alle betriebswirtschaftlichen, kaufmännischen und deklaratorischen Systeme hinweg schaffen können Die medienbruchfreie Vernetzung solcher Abläufe braucht einheitliche Schnittstellen – und genau daran arbeiten wir mit unseren Partnern, in erster Linie Herstellern von vor- oder nachgelagerten Systemen. In unserem Ökosystem verbinden die Partner und wir heute unsere Kompetenzen wie Puzzlesteine zu einem größeren Ganzen. Und bei jeder Kooperation lernen wir wie auch der jeweilige Partner ein bisschen dazu, bekommen einen anderen Blickwinkel gezeigt und können dadurch innovativer sein.
Ein Blick in die Vergangenheit reicht bereits aus, um oftmals Misstrauen gegenüber „Neuem“ zu erkennen: Im 19. Jahrhundert gab es doch einige Bedenken als man vom Pferd auf das Automobil umsattelte… hat sich die Gesellschaft wirklich zur Innovationsgesellschaft verändert und wir geben jeder Neuerung eine Chance? Sollten wir überhaupt jeder Idee eine Chance geben?
Im Prinzip ist jede Idee es wert, einmal genauer darüber nachzudenken. Abbügeln sollte man grundsätzlich erstmal gar nichts. Wenn sich eine Idee bei näherer Betrachtung aber schnell als nicht realisierbar herausstellt, sollte man aber auch nicht zu viel Energie darauf verwenden. Wir haben dafür im Rahmen unseres Innovationssystems die richtige Struktur, um zeitnah zu ermitteln, welche Ideen Potenzial haben und welche eher nicht. Und was die Skepsis gegenüber Neuem angeht: Die hat es immer gegeben und die wird es immer geben. Die Frage, wie wir mit dieser Skepsis umgehen, ist aber hochspannend. Gerade in Deutschland haben wir da eine ganz besondere Kultur: Wir wollen immer alles hundertprozentig machen und uns gegen alle Eventualitäten absichern. Das geht mit innovativem Denken nur schwer einher. Ich denke, wir müssen da auch als Gesellschaft unseren Blickwinkel ein Stück weit ändern. Dazu muss schon das Bildungssystem reformiert werden: Wenn wir bei der jungen Generation Kreativität fördern und Scheitern tolerieren, anstatt jeden Fehler zu bestrafen, wird das viel bewirken. Und ich plädiere auch dafür, dass die bürokratischen Hürden für Unternehmensgründungen aus dem Weg geschafft werden müssen. Unternehmertum muss sich lohnen, damit aus kreativen Ideen starke Unternehmungen werden können, die innovative Produkte und Dienstleistungen hervorbringen. Schwierig wird es allerdings dann, wenn ethisch-moralische Fragen ins Spiel kommen oder wenn das Recht des Einzelnen und das Interesse der Allgemeinheit aufeinandertreffen. Künstliche Intelligenz ist aktuell ein Thema, bei dem beide Aspekte mit zum Tragen kommen. Vom Recht auf den Schutz der eigenen Daten über Haftungsfragen für Entscheidungen von Maschinen bis hin zur diffusen Angst, die Maschinen könnten irgendwann die Macht übernehmen, gibt es da ein riesiges Spektrum an Problemstellungen zu klären. Das ist aber kein Grund, KI als solche nicht weiterzuentwickeln, und wir setzen diese Technologie ja in Teilbereichen auch bereits erfolgreich ein, wie schon gesagt.
Nach einem Ausflug in die Vergangenheit, nochmal der Blick in die Zukunft: Welche Vision haben Sie bezüglich der Innovationskunst bei DATEV?
Wir haben die Weichen gut gestellt, um intern innovative Prozesse, bereichsübergreifendes, interdisziplinäres Denken, End-to-End-Verantwortung und das dafür notwendige Mindset bei DATEV zu fördern. Meine Vision ist, dass alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Mindset verinnerlichen und wir so Innovation an nahezu jeder Stelle im Unternehmen leben und dabei immer das Ohr ganz nah an den Kunden haben. Innovation basiert nicht auf einer Person oder einer einzelnen Einheit. Damit Innovation entsteht, braucht es immer Teamwork.